Rezension

Der Halbbart | Charles Lewinsky

31. Dezember 2020
Der Halbbart

Inhalt

1313: Der junge Eusebius hört und erfindet leidenschaftlich gerne Geschichten, für die Feldarbeit oder das Soldatenleben ist der schmächtige Jüngste der Familie jedoch nicht gemacht. Deshalb hat er es in seinem Dorf in der Talschaft Schwyz nicht leicht, in welchem man die Hacke des Totengräbers täglich hört und Engel sich kaum von Teufeln unterscheiden lassen. Ein Fremder aus der Ferne, von allen wegen der verbrannten Gesichtshälfte Halbbart genannt, wird Sebis Vorbild und lehrt ihn was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet und wie man seinen eigenen Weg findet.

Erster Satz

Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da.

Eigene Meinung

Es gibt manche Geschichten, bei welchen sich während des Lesens bereits ein leiser Abschiedsschmerz einstellt, obwohl noch mehrere hundert Seiten übrig sind. „Der Halbbart“ ist für mich eines jener seltenen Werke, das am liebsten nie enden sollte. Charles Lewinsky schildert darin nicht nur die ersten Schritte seines Protagonisten Sebi in Richtung Erwachsenwerden, sondern lässt eposartig ein ganzes mittelalterliches Dorf mitsamt seiner liebens- wie verachtenswerten Bewohner lebendig werden.

In 83 Kapiteln erzählt er ebenso viele Geschichten aus der Sichtweise des 13-jährigen Sebi, die allesamt zusammenfließen zu einem großartigen Epos, dessen Sogwirkung man sich nur schwerlich entziehen kann. Gerade durch die Einfachheit der Sprache, die mit Schweizer Dialekt gewürzt ist, ist die Erzählung in ihrer ungeschönten, kindlichen Direktheit überaus eindringlich. Das bedeutet jedoch auch, dass dem mittelalterlichen Setting entsprechende Folterszenen detailliert geschildert werden, wie beispielsweise die stundenlange brutale Hinrichtung Teobaldo Brusatis oder die unsterile Amputation eines Beins.

Besonders herausragend finde ich jedoch die scharfen Charakterzeichnungen, welche das Innerste einer Person erlebbar nach außen kehren und das mit außerordentlicher Prägnanz und Weisheit. Zum einen wäre das der liebenswürdige, gutherzige wie arglose Sebi, dessen Reifeprozess man mitsamt der Höhen und Tiefen lebhaft mitverfolgen kann, zum anderen der titelgebende Halbbart. Zu Beginn nimmt er die Rolle des Fremden im Dorfe ein, dessen von Brandmalen gezeichnetes Äußeres auf eine düstere Vergangenheit schließen lässt und ihn zugleich zum Einzelgänger macht. Stück für Stück lernt man nicht nur seine grausame Geschichte, sondern auch seine erstaunliche Klugheit kennen, die für zahlreiche wichtige Gedankenanstöße sorgt.

Fazit

Herzerwärmend, teils brutal, aber stets mitreißend hat Charles Lewinsky mit „Der Halbbart“ eine eposartige Erzählung vom Erwachsenwerden, Freundschaft und Familie sowie der Kunst des Geschichtenerzählens geschaffen, die trotz ihres mittelalterlichen Schauplatzes absolut zeitlos ist.


DER HALBBART

Autorin: Charles Lewinsky
Seitenzahl: 688
Erschienen: 26.08.2020
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07136-8
Preis: 26,00 €


Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Kathiduck

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