Rezension

Gleich unter der Haut | Berthe Obermanns

7. Dezember 2022
Gleich unter der Haut

Ich gehe ihr entgegen, habe Angst, dass sie springen könnte – weil sie so furchtlos wirkt oder so, als hätte sie nichts zu verlieren.

Berthe Obermanns: Gleich unter der Haut (S. 39)

Sie, das ist Lou, die ungewöhnliche junge Frau, die Niklas mitten in der Nacht auf der Straße kennenlernt. Lou, die ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht und für die er bei eisigen Temperaturen vor dem Supermarkt ausharrt, um sie wiederzufinden. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, denn in ihrer Gegenwart verliert die Trauer um seine verstorbenen Eltern an Schärfe. Die Eintönigkeit seines Alltags wird durch zarte Farbnuancen aufgehellt, während die Überforderung bedingt durch die Pflege seiner demenzkranken Großmutter in den Hintergrund rückt.

Was wie eine tragische Liebesgeschichte zweier verlorener Seelen anmutet, deren Einsamkeit sich in der Weihnachtszeit potenziert, ist zugleich die verzweifelte Suche nach sich selbst im Angesicht der scheinbar unüberwindbaren inneren Zerrissenheit.

Sie lacht laut und leidet leise.

Berthe Obermanns: Gleich unter der Haut (S. 180)

Jener Konflikt zwischen wimpernschlagartigem Changieren zwischen Nähe und Distanz vor dem Hintergrund von Traumatisierung und Selbstverletzung spiegelt sich auch in der von Antithesen durchsetzen, schmerzhaft schönen Sprache wider. Berthe Obermanns Debütroman folgt dabei einer ganz eigenen Melodie, die von beeindruckender sprachlicher Versatilität getragen wird. Mit zarten Pinselstrichen tanzen die Worte geradezu über die Seiten, mal in trauriger Bedächtigkeit langsam und behutsam, dann wiederrum simultan zu den emotionalen Ausbrüchen in Form eines rapide anschwellenden Crescendos, das jedoch ähnlich schnell zu einem steten, regelmäßigen Rhythmus zweier Seelen im Einklang abklingt.

Über Verzweiflung, Schmerz, Trauer und Überforderung sind die beiden miteinander verbunden, ihre inneren Kämpfe fechten sie jedoch alleine aus. All das erlebt man hautnah mit engem Fokus auf Niklas Sichtweise mit, welcher sich in seltenen, gelegentlich eingestreuten Passagen zu Lous Perspektive verschiebt.

Bereits nach den ersten Sätzen war mir klar, dass „Gleich unter der Haut“ ein sprachlich grandioses versatiles Debüt ist, doch es war letztlich der perfekte Einklang aus Berthe Obermanns ganz eigenem Erzählton mit Wiedererkennungswert, emotionaler Entwicklung sowie der Fülle an notierenswürdigen Stellen, das mich nachhaltig beeindruckt hat.


GLEICH UNTER DER HAUT

Autorin: Berthe Obermanns
Seitenzahl: 260
Erschienen: 06.09.2022
Verlag: Osburg Verlag
ISBN: 978-3-95510-291-3
Preis: 24,00 €


Herzlichen Dank an die Autorin Berthe Obermanns für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Kathiduck

You Might Also Like

No Comments

Leave a Reply