Rezension

Mond über Beton | Julia Rothenburg

5. April 2021
Mond über Beton

Inhalt

Seit Anfang der Siebziger Jahre umarmen zwölf Etagen Stahl das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, wo das Herz aus Beton in unruhigem Takt schlägt. Von der Presse als sozialer Brennpunkt, Drogenumschlagplatz und gefährliches Viertel abgestempelt, ist das Neue Zentrum Kreuzberg, kurz NKZ, zugleich das Zuhause von Mutlu, seinen beiden Söhnen Burak und Barış, ihrer Cousine Aylin, der Witwe Stanca sowie dem älteren Pärchen Marianne und Günther. Stancas erschreckender Fund ist der letzte Tropfen, der das Fass aus Frustration und Verzweiflung bei den Bewohnern überlaufen lässt, sodass sich eine Bürgerwehr bildet, die es sich zum Ziel gesetzt hat „ihr“ NKZ wieder wohnenswert zu machen. Dabei übersehen sie jedoch eine sich zunehmend im Hintergrund ankündigende Gefahr.

Erster Satz

Die Menschen sind wie Kinder, wenn es um ihre Häuser geht.

Eigene Meinung

Seit „hell/dunkel“ bin ich ein großer Fan von Julia Rothenburgs außergewöhnlicher Art zu erzählen, der Lebendigkeit ihrer Sprache und der abgründigen Tiefe ihrer Charaktere. Wenngleich sich „Mond über Beton“ einer anderen Thematik widmet, ist es nicht minder fesselnd und nachdenklich stimmend.

Einen wendungsreichen Plot sucht man hier vergeblich, doch genau jene Abwesenheit einer stringenten Handlung verleiht der Erzählung ihren rauen, unnachahmlichen Charme. Episodenartig wechselt man zwischen dem alltäglichen Leben der unterschiedlichen Charaktere, deren Chronik an Schicksalsschlägen eng mit der Geschichte des NKZ verknüpft ist. Die unglaublich pure wie authentische Charakterzeichnung spiegelt sich auch in der unverfälscht eindringlichen Sprache wider, die von elliptischen Aneinanderreihungen der Gedanken durchsetzt ist.

Durchbrochen wird die lebensechte geradezu in stupide Denkmuster einlullende Schilderung von kursiv gedruckten Passagen, in welchen der graue Betonkoloss in stummer Wehrlosigkeit selbst zu Wort kommt. Treffsicher, pointiert und schmerzlich genau seziert er die falsche Freundlichkeit, den blinden Aktionismus sowie die scheinheilige Verlogenheit der menschlichen Triebe und hält unserer Gesellschaft auch abseits des Kottbusser Tores eindringlich den Spiegel vor.

Nichts ist so gut verschlossen wie eure Offenheit.

Rothenburg, Julia: Mond über Beton (S. 146).

„Mond über Beton“ ist einer jener Romane, dessen Großartigkeit sich erst einige Zeit nach dem Beenden der Lektüre vollständig entfaltet. Denn das zunächst wie aus heiterem Himmel kommende Ende ist bei eingehender Betrachtung die logische Konsequenz aus menschlichem Egoismus, verblendeter Selbstbezogenheit und unverbesserlicher Ignoranz. Genau wie die Bewohner des NKZ war ich blind für das Offensichtliche, habe mich in meiner überlegenen Privilegiertheit gesonnt und bin deshalb umso härter auf dem betonharten Boden der Tatsachen gelandet: Julia Rothenburg schildert kein Problem sozialer „Schandflecke“, sondern der menschlichen Gesellschaft.


MOND ÜBER BETON

Autorin: Julia Rothenburg
Seitenzahl: 320
Erschienen: 04.03.2021
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3-627-00282-4
Preis: 22,00 €


Herzlichen Dank an die Frankfurter Verlagsanstalt für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Kathiduck

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2 Comments

  • Reply Livia 8. April 2021 at 22:57

    Hallo liebe Kathi

    Das klingt total spannend und aussergewöhnliche Erzählsprachen reizen mich immer sehr. Von Julia Rothenburg habe ich noch gar nichts gelesen, aber ich merke mir die Autorin und das Buch auf jeden Fall einmal vor.

    Alles Liebe an dich
    Livia

    • Reply Lesendes Federvieh 10. April 2021 at 12:59

      Liebe Livia,

      wenn du nach außergewöhnlichen Erzählsprachen und -stimmen suchst, dann bist du bei Julia Rothenburg genau richtig! „hell/dunkel“ bringt dich an die eigenen Grenzen, „Mond über Beton“ führt einem die menschlichen Schwächen vor Augen – beides grandios. 🙂

      Herzliche Grüße und ein wunderschönes Wochenende,
      Kathi

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