Rezension

Weiß | Han Kang

30. August 2020
Weiß

Inhalt

In einer europäischen Stadt, die sich im weißen Winterschlaf befindet, wird die Erzählerin von einer Woge der Trauer in Erinnerung an ihre Schwester erfasst, die als Neugeborene nach wenigen Atemzügen in den Armen der Mutter starb. Diese Tragödie hat das Leben der Familie bestimmt und sorgt bei ihr noch heute für schmerzhafte Migräneattacken, bis sie sich in weißen Bildern mit dem verfrühten Tod ihrer Schwester auseinandersetzt, das im Weiß der Muttermilch oder der reiskuchenweißen Haut des Mädchens wieder und wieder erscheint.

Erster Satz

Als ich im Frühjahr beschloss, über weiße Gegenstände zu schreiben, machte ich mir als Erstes eine Liste:

Eigene Meinung

Han Kang gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen Koreas, ihr Roman „Die Vegetarierin“ wurde mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet und doch bin ich erst durch „Weiß“ auf sie aufmerksam geworden. Dabei unterscheidet sich dieses Werk von ihren bisherigen Romanen, da es sich um eine eingehende Auseinandersetzung mit dem frühen Tod ihrer Schwester und der damit verbundenen Trauer handelt.

Han Kangs Sprache strotzt nur so vor ausdrucksstarker Kraft und Schönheit, in ihren Worten schwingt eine unnachahmliche Poesie mit, die Gefühle der körperlich spürbaren Traurigkeit, der lähmenden Melancholie und des schmerzhaften Verlustes aufkommen lässt. Mit jeder Zeile haucht sie scheinbar unbedeutenden Dingen, welche lediglich die koreanische Trauerfarbe weiß als Gemeinsamkeit teilen, Leben ein, sodass deren Zerbrechlichkeit für einen kurzen vergänglichen Augenblick bemerkbar werden. Das Herabsegeln eines Taschentuches beschreibt sie beispielsweise folgendermaßen:

Die Ränder waren nach oben gebogen, wie die Federn eines Vogels im Sinkflug. Wie eine Seele, die vorsichtig einen Platz sucht, um sich niederzulassen.

Kang, Han: Weiß (S. 83)

Jedes der kurzen Kapitel trägt dabei den Namen eines weißen Gegenstandes oder einer entsprechenden Erinnerung. Doch egal ob sie von Wellen, Wickeltüchern oder mondförmigen Reiskuchen erzählt, stets sind ihre Worte von spürbarer Traurigkeit durchzogen. Was zunächst wie ein unstetes Fließen ihrer Gedanken als Aneinanderreihung an Bildern, Momentaufnahmen und Erinnerungen anmutet, bekommt durch die Aufteilung in drei Abschnitte einen gewissen Rahmen:

Während die Erzählerin in „Ich“ aus selbiger Perspektive den Anfang ihres Aufarbeitungsprozesses beschreibt, lässt sie ihre verstorbenen Schwester in „Sie“ die Schönheit der weißen Dinge entdecken. Hierbei lässt sie ihre Gedanken allerdings gar so weit treiben, dass diese stellenweise ausschweifende Umwege nehmen, was für meinen Geschmack manchmal ein wenig zu viel des Guten war. Besonders eindringlich ist der abschließende Abschnitt „Alles weiß“, denn durch den abermaligen Wechsel der Perspektive findet man sich mitten im Dialog mit ihrer verstorbenen Schwester, was sich geradezu intensiv intim anfühlt.

Fazit

Mit geradezu außergewöhnlich berührender Poesie erzählt Han Kangs „Weiß“ von persönlicher Trauer, innerem Schmerz sowie der Heilsamkeit von Literatur und brilliert dabei mit großartigen sprachlichen Bildern unter dem Deckmantel der koreanischen Trauerfarbe weiß.


WEIß

Autorin: Han Kang
Übersetzung: Ki-Hyang Lee
Seitenzahl: 151
Erschienen: 18.08.2020
Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-03722-2
Preis: 20,00 €


Herzlichen Dank an den Aufbau Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Kathiduck

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4 Comments

  • Reply Mikka 3. September 2020 at 22:36

    Hallo,

    „Weiß“ muss ich auch unbedingt noch lesen! „Menschenwerk“, „Die Vegetarierin“ und „Deine kalten Hände“ der Autorin haben mich gleichermaßen verstört wie berührt – ihre Bücher sind zum Teil ganz unterschiedlich, aber alle auf ihre Art großartig, ich würde sie auf jeden Fall empfehlen.

    Deine Rezension macht direkt wieder richtig Lust auf das Buch, auch wenn es sicher wieder an die Substanz gehen wird…

    LG,
    Mikka

    • Reply Lesendes Federvieh 4. September 2020 at 14:41

      Liebe Mikka,

      Han Kangs bisherige Werke habe ich leider noch nicht gelesen, das möchte ich aber unbedingt nachholen, denn ihre Sprache ist unglaublich eindringlich und ungeheuer berührend, in dieser Intensität kenne ich das gar nicht. 😉 Gerade durch die persönliche Trauerverarbeitung ist dieses Buch sicher keine leichte Kost, aber es lohnt sich definitiv! 😀

      Ganz liebe Grüße,
      Kathi

  • Reply Livia 8. September 2020 at 22:43

    Hallo liebe Kathi

    Die Rezension ist dir wirklich gelungen, ich kann deine Begeisterung förmlich spüren und das Buch klingt heftig und packend und absolut genau richtig für mich. Danke für den guten Buchtipp.

    Alles Liebe
    Livia

    • Reply Lesendes Federvieh 12. September 2020 at 14:27

      Hallo liebe Livia,

      vielen herzlichen Dank, das freut mich riesig! Gerade ihre großartige Sprache macht das Buch trotz der traurigen Thematik so lesenswert. Erzähl mir gerne wie es dir gefallen hat, wenn du es liest! 😀 Ich möchte auch unbedingt noch mehr von Han Kang lesen, ihr Schreibstil ist wirklich etwas ganz Besonderes.

      Herzliche Grüße,
      Kathi

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