Rezension

Briefe an Obama | Jeanne Marie Laskas

3. Juni 2019
Briefe an Obama

Inhalt

Während der Amtszeit von Barack Obama gingen täglich Zehntausende Briefe in der Korrespondenzabteilung, wo ein eigens darauf spezialisiertes Team die Briefe thematisch sortierte, Antwortschreiben aufsetzte und besonders berührende Briefe auswählte, die für die 10LADs infrage kommen. Dabei handelt es sich um die Mappe der zehn für den Präsidenten ausgewählten repräsentativen Schreiben, denn Barack Obama bestand darauf täglich zehn Briefe zu lesen, um zu wissen, was die Menschen in dem Land berührt, für das er verantwortlich ist. Zu Wort kommen Obama-Anhänger wie auch politische Gegner, Menschen, die in dem ersten farbigen Präsidenten ein großes Vorbild sehen, Kriegsveteranen, aber auch Schulkinder, die ihm ihre Hausaufgaben zur Korrektur schicken. Themen wie soziale Gerechtigkeit und Folgen der Finanzkrisen finden sich unter den Briefen genauso wie neue Start-Up-Ideen und tragische Geschichten über die Folgen des Terrorismus.

Eigene Meinung

Michelle Obamas Biografie „Becoming“ hat mich in ihrer Aufrichtigkeit, Menschlichkeit und ihrem fortwährenden Glauben das Richtige zu tun, derart beeindruckt, dass ich mich zunehmend mehr für die Familie Obama interessiere, die auch über ihre Amtszeit hinaus eine große Anzahl an Menschen über die Landesgrenzen hinaus inspirieren. „Briefe an Obama“ behandelt nun den Aspekt, der mich schon in Michelles Biografie sehr neugierig gemacht hat: Die Briefe, die Barack Obama während seiner Amtszeit jeden Abend gelesen hat, um den Stimmen des Volkes Beachtung zu schenken.

Dieses Buch enthält eine nach Jahren und Zeiträumen gestaffelte Briefauswahl, die auf eindrückliche Art und Weise die Lage einer Nation im Wandel widerspiegelt, denn die Briefe sind vielfältig wie die Bevölkerung Amerikas. Es finden sich wortgewaltige, berührende, wütende, Poesie versprühende, witzige, intelligente, ängstliche, mutige, dankbare und erschütternde Briefe, die in ihrer inhaltlichen wie sprachlichen Diversität eins gemeinsam haben: Hinter jedem Brief steht ein Mensch, der von etwas schreibt, das ihn bewegt, das ihm wichtig ist und das er für wichtig erachtet es seinen Präsidenten wissen zu lassen.

Indem Barack Obama sich täglich Zeit für zehn ausgewählte Briefe nimmt, verschafft er den Stimmen seiner Bevölkerung Gehör und mehr als einmal gaben diese einen emotionalen Anstoß für politische Entscheidungen, was eindrücklich zeigt, dass auch ein einzelner Mensch inmitten von Millionen etwas bewirken kann wenn er seine Stimme erhebt und für seine Werte, Hoffnungen und Träume einsteht. 

Die Stimmen der Briefschreiber bildeten einen nie verstummenden Hintergrundchor, wie Popsongs, die man einfach nicht aus dem Kopf bekam. Melodien, die eine Kultur definierten.

Laskas, Jeanne Marie: Briefe an Obama (S. 317).

Zwischendurch sind die Briefauswahlen gespickt mit interessanten Hintergründen, wie etwa zur Entstehung des Briefsystems, den Mitarbeitern in der Korrespondenzabteilung und der geheimen Superkraft, die das „Team Kleine Leute“ innehatte oder gar persönlichen Gesprächen mit Briefschreibern, sodass man eine kleine willkommene Verschnaufpause von den teils sehr intensiven Geschichten bekommt und zugleich einen Einblick in den Obama-Mythos bekommt.

In der eigens für die Briefe eingerichteten Korrespondenzabteilung waren 50 fest angestellte, 36 Praktikanten und 300 in wechselnden Schichten arbeitende Freiwillige dafür zuständig die Flut von täglich etwa 10.000 eintreffenden Briefen zu bewältigen, sodass jeder Praktikant mindestens 300 Schreiben am Tag lesen und diese thematisch codieren musste, um die Antworten entsprechend anzupassen. Die Mitarbeiter verstehen sich dabei selbst als Anwälte der Briefschreiber, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass die Worte ihrer Mandanten, ihre Ängste und Beweggründe wahrgenommen werden und Beachtung finden, auch wenn sie es nicht in die Auswahl der 10LADs für den Präsidenten schafften. 

Dieser Stapel, jener Stapel, noch ein Stapel da hinten, ziehen Sie sich etwas aus der Mitte raus, wenn Sie wollen. Der Ton war salopp und dringlich, ganz Amerika redete durcheinander. Ungefiltert. Die Handschrift, die Tinte, die Wahl des Briefkopfs – jeder Brief war ein realer Gegenstand von einem realen Menschen, und jetzt, wo man ihn in den Händen hielt, war man dafür verantwortlich.

Laskas, Jeanne Marie: Briefe an Obama (S. 92).

Illegale Einwanderer, die sich jahrelang mit wechselnden Wohnorten und Jobs durchgeschlagen haben, fürchten die Abschiebung. Trauernde Familienmitglieder drängen auf besserer Unterstützung beispielsweise im Gesundheitssystem, in der militärischen Suizidprävention oder in der Handhabung mit Waffenverkauf, um anderen Familien das gleiche Leid zu ersparen. Zahlreiche Mitglieder der LGBTQ-Community danken Obama für seinen selbstlosen Einsatz zur gleichgeschlechtlichen Ehe.

Doch auch Kritiker kommen zu Wort, bemängeln Obamas Durchsetzungskraft, seine Positionierung zur Waffengewalt, echauffieren sich in Hasstiraden über ungerechte Bonizahlungen an Höchstverdiener oder seine offene Einstellung Minderheiten gegenüber. Manchmal hätte ich mir jedoch gewünscht, dass man thematisch mehr auf den Inhalt der einzelnen Briefe eingeht, was durch die Gespräche mit den Briefschreibern nur ansatzweise anklang.

Obwohl der Patriotismus in diesem Ausmaße uns in Deutschland fremd vorkommen mag, beginnt man mit jedem Brief mehr das starke Nationalitätsgefühl der Amerikaner und ihren Glauben an ihren Präsidenten zu verstehen. Im Wahlkampf gehen sie für einen vollkommen fremden Menschen Klinkenputzen, weil sie an diese Person und deren Vision glauben, was ich absurd wie beeindruckend zugleich finde.

Barack Obama ist eine großartige Persönlichkeit und kämpfte mit unerschüttlichem Einsatz dafür Amerika in vielerlei Hinsicht offener zu gestalten, die Meinungen anderer zu respektieren und für ein breiteres Verständnis füreinander zu sorgen. Umso schmerzhafter war es die letzten Kapitel des Buches zu lesen, die sich unaufhaltsam dem Wahlsieg Donald Trumps nähern und aufzeigen, welchen Verlust Amerika mit dieser Wahlentscheidung tatsächlich erleidet.

Auch heute erreichen den ehemaligen Präsidenten noch 5.000 Briefe wöchentlich, denn genau seine natürliche Liebenswürdigkeit und Nahbarkeit, machen ihn zu der Vertrauensperson, an die sich die Menschen Amerikas immer noch in ihren dunkelsten Stunden mit ihren Sorgen und Hilferufen wenden, weil sie wissen, dass sie von ihm gehört werden und ihre Meinungen wichtig sind.

Fazit

„Briefe an Obama“ ist ein eindringliches, bewegendes und aufrüttelndes Portrait einer Nation in der Zeit großen Wandels, das die lauten und leisen Stimmen der Bevölkerung ungefiltert widergibt und so einen Einblick in die tatsächlichen Errungenschaften der Präsidentschaft Barack Obamas gibt. Es ist ein gelungener Versuch Obama und seine täglichen zehn Briefe zu entmystifizieren, wobei man einen tiefen Einblick in die Maschinerie der Korrespondenzabteilung, den Menschen dahinter und ein wichtiges Stück Zeitgeschichte bekommt.

Briefe an Obama

BRIEFE AN OBAMA

Autorin: Jeanne Marie Laskas
Originaltitel: To Obama
Übersetzung: Nathalie Lemmens & Thorsten Schmidt
Seitenzahl: 544
Erschienen: 25.03.2019
Verlag: Goldmann
ISBN: 978-3-442-31516-1
Preis: 22,00 €


Herzlichen Dank an den Rowohlt Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Kathiduck

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