Lesung

Die Toten lehren die Lebenden – Alfred Riepertinger die Neugierigen

10. November 2019

Das Krimifestival München wartet jährlich mit internationalen Hochkarätern auf, darunter beispielweise Stephen King, Chris Carter und Jussi Adler-Olsen, doch keiner zieht die Massen in der Form an wie er es tut: Alfred Riepertingers außergewöhnliche Lesungen im Sektionssaal des Pathologischen Instituts im Klinikum Schwabing sind längst kein Geheimtipp mehr. Heiß begehrt sind die Plätze im kleinen Hörsaal, gebannt und fasziniert lauscht das Publikum dem erfahrenen Leichenpräparator auch bei der sage und schreibe 79. Zusatzveranstaltung wie er von spannenden Mumienfunden, haarsträubenden Pathologie-Klischees in Film- und Fernsehen sowie der Kunstfertigkeit seines Berufes erzählt.

In die Wiege gelegt

Sein Faible für den Tod scheint Alfred Riepertinger bereits in die Wiege gelegt bekommen zu haben, denn wie Veranstalterin Sabine Thomas im kurzen Eingangsinterview augenzwinkernd feststellte, bedeutet „reaper“ übersetzt „Sensenmann“, was im gespannten Publikum bereits für einige Lacher sorgte. Es folgten amüsante Anekdoten über die prägenden sonntäglichen Spaziergänge mit dem „Bapa“ zum Friedhof inklusive Betrachtung der offen aufgebahrten Verstorbenen im Leichenhaus sowie seine beruflichen Anfänge, die den sympathischen Münchner schließlich in die Pathologie in Haus 32 des Schwabinger Klinikums geführt haben.

Schauplatz Sektionssaal

In seinen 40 Jahren als Leichenpräparator und Experte für Balsamierung und Rekonstruktion hatte Alfred Riepertinger den ein oder anderen prominenten Gast auf und neben dem Obduktionstisch. Zu ersteren gehörten beispielsweise der Modezar Rudolph Moshammer, Politiker Franz Josef Strauß und Sänger Roy Black oder gar das Fürstenpaar von Liechtenstein, die er allesamt von einer etwas anderen Seite kennenlernte.

Doch auch die lebendige Prominenz kommt gerne zu Besuch, denn der angrenzende historische Sektionssaal mit den matt glänzenden Edelstahltischen und den eindrucksvollen Instrumentarien ist ein absoluter Hingucker und ein beliebter Drehort für zahlreiche Produktionen von Film und Fernsehen. Szenen aus „Der Alte“, dem Münchner-Tatort und der Serie „Aktenzeichen XY…ungelöst“ sowie den Eberhofer-Krimis werden beispielsweise regelmäßig dort gedreht und dürften dem aufmerksamen Beobachter bekannt vorkommen. In „Sauerkrautkoma“ durfte Alfred Riepertingers Frau sogar eine Leiche spielen, wofür sie sehr zu seinem Amüsement zwei Stunden lang vollkommen still liegen musste.

Eine Wundertüte namens Sarg

Das Stichwort Mumien ruft in der Regel Assoziationen von den Pharaonen Ägyptens hervor, die wenigsten wissen jedoch, dass auch heute noch Menschen nach ihrem Ableben einbalsamiert oder durch Austrocknung natürlicherweise zu Mumien werden. Manchmal reiche auch ein Blick in die verlassene Nachbarswohnung, warf Alfred Riepertinger mit einem verschmitzten Lächeln ein. Irritierte Blicke spiegelten sich in den Gesichtern wider, die schließlich in ungläubiges Entsetzen umschlugen, als er vom Fall einer Frau erzählte, die aus Angst vor dem Alleinsein fünf Jahre lang neben der mumifizierten Leiche ihrer Mutter im Bett geschlafen hatte.

In seinem neuen Buch schreibt Alfred Riepertinger vom Hobby seines ehemaligen Chefs und Paläopathologen Prof. Andreas Nerlich, das auch zu seinem wurde: Mumien. Besonders interessant fand ich dabei neben den Techniken des Einbalsamierens die Geschichte der renovierungsbedürftigen Jordan-Gruft in Dölling, anhand derer die Faszination für das Geheimnis unter den Sargdeckeln für den unwissenden Zuhörer mit Händen greifbar wurde. Man spürte beinahe selbst das freudige Kribbeln in der Magengegend als Alfred Riepertinger die spannungsgeladenen Momente vor der Öffnung der Särge eindrucksvoll schilderte. Man wisse nie was sich in den Särgen verberge, das sei wie eine Wundertüte, meinte er.

Alfred Riepertinger

Zwischen Gegenwart & Vergangenheit – Karolina am Flughafenterminal

Die Geschichte der Jordan-Gruft sollte jedoch noch eine unglaubliche Wendung nehmen, die so manchem Kriminalroman Konkurrenz macht. Im Sarg der früh verstorbenen und augenscheinlich professionell konservierten Karolina von Jordan befand sich nämlich ein mysteriös anmutendes Metallgefäß, das beim vorsichtigen Bewegen Geräusche einer schwappenden Flüssigkeit und etwas anderem von sich gab. Auf herrlich amüsante Art und Weise erzählte Alfred Riepertinger von verrückten Ideen, skurrilen Wortwechseln und filmreifen Szenen am Flughafenterminal zwischen klingelnden Handys und historisch wertvollem Kofferinhalt, mit dem Ziel einen Blick in das ominöse Gefäß werfen zu können.

Mortui vivos docent

Im Anschluss an die Lesung hatte man noch die Möglichkeit durch die Siegfried Oberndorfer-Lehrsammlung zu schlendern und die knapp 1150 pathologisch-anatomischen Präparate sowie die Sezierräume zu bestaunen. Während die einen vor den metallenen Schubfächern posierten und die Balsamier-Kräutermischung beschnupperten, betrachteten die anderen andächtig, manche gar ehrfürchtig und neugierig interessiert die eindrucksvollen Präparate der großen Organsysteme. Auswirkungen der Tuberkulose, metastasierte Tumoren und angeborene Fehlbildungen konnte man gleichermaßen sehen wie die alten Werkzeuge. Wiederum andere haben den direkten Weg in den historischen Sektionssaal gesucht, in welchem Alfred Riepertinger abschließend das pathologische Handwerk und dessen Relevanz für den klinischen Alltag herausstellte.

Wenn Ärzte nicht an Toten lernen können, müssen sie dies an Lebenden tun – und das kann Tote geben!

Alte Medizinerweisheit

Der lateinische Satz „Mortui vivos docent“ prangt nicht umsonst über den vier stählernen Tischen, er bedeutet übersetzt „Die Toten lehren die Lebenden“. Obduktionen sind ein wichtiges Mittel zur Qualitätskontrolle, denn darüber lassen sich beispielsweise etwaige Fehldiagnosen, die zu falschen Behandlungen geführt haben, oder bisher unbekannte Nebenwirkungen von neuen Behandlungsmethoden erkennen. Die Zahlen, die Alfred Riepertinger anschließend in den Raum wirft, sind erschreckend. 30 Obduktionen wurden im letzten Jahr in diesen Räumlichkeiten durchgeführt, was für die Überprüfung der klinischen Diagnosestellung und ärztlichen Kompetenz beinahe schon lächerlich wenig ist. Ganz zu schweigen von der steigenden Dunkelziffer der fälschlich als natürlich klassifizierten Tode.

Ursächlich für jenes Problem der rückläufigen Zahlen ist das Fehlen eines bundesweiten Obduktionsgesetzes. Die einzelnen Bundesländer haben zwar Bestattungsgesätze, diese beinhalten jedoch allesamt Einwilligungsregelungen. In Bayern wird vor der Einäscherung eines Verstorbenen noch nicht einmal eine in anderen Ländern obligate zweite Leichenschau durch ein Team der Rechtsmedizin durchgeführt.

Ehe man sich versah, neigte sich die Veranstaltung dem Ende zu und doch hätte man den herrlichen Anekdoten zu wohlgemeinten Ratschlägen für Filmteams, Gunther von Hagens und der plastinierten Plazenta seines Enkels Tristan noch weitaus länger lauschen können. Denn eines ist klar: Alfred Riepertingers spannende Erzählungen lassen niemanden kalt. Dem ein oder anderen mag bei der anschaulichen Schilderung mit bildlicher Untermalung ein wenig schwummrig werden, doch ausnahmslos alle Anwesenden hingen dem ehemaligen Leichenpräparator wie gebannt an den Lippen als er von den Ursprüngen der Pathologie, seinen prominenten Gästen und seiner facettenreichen Arbeit mit den Toten sprach und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Tod anregte.

Allerherzlichen Dank an das Krimifestival München für die abermalige Organisation eines grandiosen Events und natürlich an den Star des Abends, Alfred Riepertinger!

Um es abschließend in den Worten von Kriminalbiologe Max Benecke auf den Punkt zu bringen, die gleichsam auf „Mein Leben mit den Toten“ wie auf Alfred Riepertingers Veranstaltung selbst zutrifft:

Das Buch ist nicht lustig, aber sehr unterhaltsam; es ist nicht grausig, aber sehr offenherzig; es ist sehr menschlich, aber zugleich morbide.

Max Benecke im Vorwort zu Alfred Riepertingers „Mein Leben mit den Toten“ (S. 9).

„Mumien“ ist seit dem 17.09.2018 im Heyne Verlag erhältlich.

Kathiduck

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2 Comments

  • Reply Andrea / printbalance 17. November 2019 at 23:54

    Guten Abend 🙂
    Was für ein wundervoller und sehr informativer Beitrag.
    Ich bin genauso begeistert gewesen sowohl von der Lesung als auch von dem Seziersaal wie Du.
    Der Mann ist echt mega sympathisch und das Bild ist auch toll geworden.
    Freut mich, dass Du so eine schöne Zeit bzw. Abend hattest.
    Herzliche Grüße
    Andrea ♥

    • Reply Lesendes Federvieh 18. November 2019 at 16:23

      Hallo liebe Andrea,

      vielen Dank für dieses Kompliment! 😀

      Die Veranstaltung war wirklich etwas ganz Besonderes, weil die Kombination aus Alfred Riepertinger, seinen Geschichten und dem Seziersaal samt historischer Präparate perfekt gepasst hat.

      Ganz liebe Grüße,
      Kathi

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