Inhalt
Grün arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Pfleger auf der geschlossenen Station in einer Psychiatrie. Der Reiz des Neuen ist längst verflogen, die einzelnen Gesichter und ihre Geschichten verschwimmen, einige Patienten kommen wieder, während andere verschwinden. Doch sie fällt ihm auf und weckt seine Neugier, er sieht eine Verbindung zwischen ihren beiden Leben, die er zu ergründen versucht und sich dabei in seiner eigenen Haltlosigkeit zu verlieren droht.
Erster Satz
In der Psychoanalyse gibt es das Konzept der Angst vor dem Zusammenbruch.
Eigene Meinung
„Ungefähre Tage“ ist ein sehr eigenwilliges Debüt, das mich zu gleichen Teilen gefesselt wie irritiert hat, mit verwunderlich klugen Querverbindungen zwischen menschlicher Psyche und mystischer Archäologie überrascht und zugleich einen eigenartigen Sog erzeugt.
Die einzelnen Scherben des Zeitstrahls fielen zu Mustern zusammen aus dem wenigen, was sie offiziell erzählte, vor allem aber dem, was sich zwischen uns aus dem Boden erhoben hatte, Kulissen, Szenen, sprachliche Assoziation.
Annika Domainko: Ungefähre Tage (S. 113)
Auch jetzt weiß ich noch nicht so ganz, was ich von dieser Geschichte halten soll, die zwischen eintönigem Stationsalltag, trägen Gedankenspielen mit archäologischen Exkursen und explosiven psychotischen Schüben changiert. Bedingt durch die alleinige Erzählperspektive Grüns ist der Fokus eng, die Handlungsdeutung entsprechend eingefärbt und genau dies macht den besonderen Reiz aus.
Wie die nach langer Berufserfahrung immergleichen Tage in der psychiatrischen Einrichtung verwischen zusehends auch die Grenzen zwischen den Identitäten zweier haltloser Menschen und der eigenen Wahrnehmung. Grün projiziert seine eigenen Erlebnisse, Gedanken und Gefühle auf seine Patientin, ist sie und zugleich doch wieder nicht, denn es sind unterschiedliche Varianten ein und derselben Erzählung, die der Geschichte einen seltsam entrückten Charakter verleihen. Über dem Geschehen scheint stets eine leichte Unschärfe zu liegen, die in einigen wenigen Szenen für Sekundenbruchteile nachlässt und den Blick auf die zugrundeliegende Wahrheit, den Machtmissbrauch und die manipulativen menschlichen Abgründe freigibt.
Fazit
„Ungefähre Tage“ ist ein sprachlich versatiler Roman der Suche nach Gewissheit, beweglicher Machtverhältnisse und der Unaussprechlichkeiten, dessen in losen Enden verblassender Schluss sich äußerst passend in das eigenwillige Gesamtkonstrukt fügt.
UNGEFÄHRE TAGE
Autorin: Annika Domainko
Seitenzahl: 222
Erschienen: 26.01.2022
Verlag: C. H. Beck
ISBN: 978-3-406-78155-1
Preis: 23,00 €
Herzlichen Dank an den C. H. Beck Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
2 Comments
Liebe Kathi
Das Buch ist mir ja noch gar nicht begegnet und es klingt super spannend und vor allem sehr aussergewöhnlich erzählt. Lieben Dank für diesen Buchtipp, das könnte mir super gefallen.
Alles Liebe
Livia
Liebe Livia,
ich habe es auch noch nicht oft gesehen, was fast ein bisschen schade ist, denn dieses Buch ist wirklich außergewöhnlich. Zwar trifft es bestimmt nicht jeden Geschmack, da es doch sehr eigen ist, aber genau das mochte ich ganz gerne. Ich bin gespannt, ob es einen Weg in dein Bücherregal findet! 🙂
Herzliche Grüße,
Kathi