Inhalt
Als Teresa Borsig das positive Ergebnis ihres Schwangerschaftstests sieht, fühlt sie sich von der Idee der Familiengründung gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Schwer wiegen die Erinnerungen an die eigene von Distanz und Disziplin geprägte Kindheit. Doch in der Abtreibungsklinik beschließt Teresa wider des schwesterlichen Drängens zum Schlucken der beendigenden Tablette ihren eigenen Zweifeln zum Trotz Mutter zu werden. Inmitten der Nachwehen ihrer Nachkriegserziehung und der eiskalten Effizienz des Gesundheitssystems versucht Teresa aus dem ihr in die Wiege gelegten Weg auszubrechen, um die unterdrückte Gefühlslosigkeit nicht auf folgende Generationen zu reproduzieren.
Erster Satz
Heute morgen saß sie mir im Rücken.
Eigene Meinung
Ich habe (noch) keine Kinder und will mir deshalb gar nicht anmaßen zu beurteilen, was Mutterschaft wirklich bedeutet. Und doch hat mich Julia Frieses „MTTR“ wie keine andere Erzählung zuvor so sehr in Erahnung selbiger nachempfinden lassen, wie sich Muttersein, die damit verbundenen übergriffigen Kommentare und irrational überhöhten gesellschaftlichen Ansprüche sowie all das Ungesagte dazwischen anfühlen muss.
Auf den ersten Blick wirkt die Protagonistin Teresa geradezu nüchtern, emotionslos, stellenweise gar distanziert zu ihrer eigenen Geschichte, obgleich es darin um nichts weniger als ihr eigenes Leben geht. Durch ihre ungeplante Schwangerschaft verschiebt sich die Entscheidungsgewalt über ihren eigenen Körper vom Privaten ins Öffentliche. Von allen Seiten prasseln ungewollte Ratschläge, wertende Blicke und gesellschaftliche Ansprüche auf Teresa ein, im Hinterkopf pocht die schrille Stimme ihrer Mutter, deren konservative Nachkriegserziehung Früchte trägt. Sie ist nicht länger denkendes, fühlendes, sich durch einen eigenen Willen auszeichnendes Wesen, sondern unterliegt der Objektifizierung in ihrer Rolle als werdende Mutter.
Äquivalent dazu ist der prägnante, maschinengewehrsalvenartige Schreibstil, der auf jedes Wort zu viel verzichtet. Durch jene Knappheit der Sprache trägt jedes einzelne davon nur umso mehr Gewicht und verdichtet sich zu einem lauten Aufschrei unterdrückter Emotionen. Mit bohrender Präzision seziert Julia Friese toxische Familienstrukturen, gibt den leisen Zweifeln des Mutterseins eine Stimme und enthüllt Schicht um Schicht die wahnwitzige Instabilität des erwartungshaltungsgeformten Konstruktes namens Mutterschaft, um dieses Kartenhaus anschließend mit geballter Sprachlosigkeit furios einstürzen zu lassen.
Fazit
Da keines meiner Worte „MTTR“ auch nur ansatzweise gerecht werden könnte, bleibt mir abschließend nur eines zu sagen und das mit Nachdruck: jederMANN sollte es lesen, um einen Hauch dessen nachzuempfinden, was Mutterschaft in all seinen Facetten bedeutet!
MTTR
Autorin: Julia Friese
Seitenzahl: 421
Erschienen: 10.08.2022
Verlag: Wallstein
ISBN: 978-3-8353-5257-5
Preis: 25,00 €
Herzlichen Dank an den Wallstein Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
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