Inhalt
Die alleinerziehende Shahira kümmert sich nicht um die Regeln der kurdischen Gemeinschaft. Von Monogamie hält sie nichts und die begierigen wie abwertenden Blicke, die sie durch ihre freizügige Kleidungswahl auf sich zieht, beachtet sie kaum. Amal und Raffiq, die Freunde ihres Sohnes Younes, betrachten sie gleichermaßen mit Faszination wie Abneigung, bewundern sie für ihre Kompromisslosigkeit und den Umgang mit Sexualität, wenngleich sie ihr Verhalten Younes gegenüber missbilligen. Durch Shahiras Andersartigkeit werden Amal, Raffiq und Younes mit ihren eigenen Sehnsüchten, Vorurteilen und Entscheidungen konfrontiert, die sie für ihre jeweilige Zukunft treffen müssen.
Erste Sätze
Keiner möchte gegen Younes kämpfen.
Raffiq
Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben, und ich erzählte, weil die Männer sich freuten und die Frauen sich ärgerten, weil mein Vater mich auf den Schoß nahm und mich aufforderte, die Geschichte seinen Männerfreunden zu erzählen, als wäre sie eine seiner Anekdoten, als wäre ich seine Handpuppe.
Amal
Eigene Meinung
Auf der Suche nach neuen, innovativen und vor allem mitreißenden Geschichten bin ich durch zahlreiche enthusiastische Besprechungen auf Karosh Tahas „Im Bauch der Königin“ gestoßen, das mich gerade aufgrund der Aufmachung als Wendebuch angezogen hat. Nach anfänglicher Entscheidungsschwierigkeit habe ich Raffiqs Geschichte als Beginn gewählt und bin sogleich in diese eindringliche Erzählung zwischen Identität, der Stellung der Frau in einer deutsch-kurdischen Gesellschaft und dem Verlassenwerden durch den Vater abgetaucht.
Die wahre Genialität des Buches entfaltet sich jedoch erst, sobald man erste Einblicke in die zweite Perspektive gewonnen hat. Meine anfängliche Irritation über die Protagonisten, welche die gleichen Namen tragen sich aber charakterlich dennoch teils eklatant voneinander unterscheiden, schlug bald in Faszination um. Man gewinnt Einblicke in zwei Wahrheiten einer Geschichte, die ähnlich eines Paralleluniversums koexistieren. Es ist beinahe so, als handele es sich dabei um ein Märchen von Shahrasad aus 1001 Nacht, das sich verändert, je häufiger es weitererzählt wird, im Kern jedoch stets unveränderlich bleibt: Shahira wird als personifizierte Sünde skizziert, die Männer begehren sie, die Frauen wären gerne wie sie.
Faszinierenderweise entwickelt sich durch beide Versionen der Geschichte ein klares Bild von Shahira, obgleich der Zugang zu ihrem Innenleben durch die Wahl der Erzählperspektiven verwehrt bleibt. Wie bereits in den ersten Sätzen deutlich wird, spiegelt sich die Gegenläufigkeit dieser zwei Wahrheiten zudem in den unterschiedlichen Stilen wider. Raffiq erzählt geradliniger, wirkt beinahe so als würde er in seinem Weitblick über den Dingen und Menschen des Viertels schweben, wohingegen Amal fließende Gedanken lose aneinanderreiht und vielmehr einen inneren Kampf austrägt, der sich als dunkler, melancholischer Filter über die Geschehnisse zu legen scheint.
Was beide Varianten weiterhin gemein haben, ist die Suche nach der Zugehörigkeit, die Frage nach der Ursache des Verlassenwerdens durch den Vater, wenngleich in unterschiedlichen Konstellationen, verschwimmenden Grenzen und spürbarer Ablehnung. Jenes Facettenreichtum der Erzählung finde ich besonders beeindruckend, denn Karosh Taha gelingt es spielerisch zahlreiche Gedankenanstöße einzuflechten ohne oberflächlich mokierend zu wirken. Vielmehr gibt sie wichtige Anklänge zum Nachdenken, was beispielsweise die Stellung der Frau, das Ausleben von Sexualität und Ausgrenzung betrifft.
Fazit
„Im Bauch der Königin“ ist zweifelsohne eine Lektüre, die in ihrer Andersartigkeit, ihrer Gedankenvielfalt sowie der Unzuverlässigkeit ihrer Erzähler nachhallt und dabei sprachlich große Freude bereitet.
IM BAUCH DER KÖNIGIN
Autorin: Karosh Taha
Seitenzahl: 250
Erschienen: 29.04.2020
Verlag: Dumont
ISBN: 978-3-8321-8394-3
Preis: 22,00 €
Herzlichen Dank an den Dumont Verlag für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
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